Den Himmel der Erde näherbringen
„Farben sind die Lebendigkeit des Lichts“, sagt die niederländische Künstlerin und Designerin Hella Jongerius.
Das bahnbrechend Neue an und in der mittelalterlichen Kathedrale ist das Licht, das in den Kirchenraum hereingeholt wird, um sich durch große bunte Glasfenster den Weg ins Innere zu bahnen, das Haus transparent zu machen und die KirchenbesucherInnen in eine besondere Stimmung zu versetzen.
Ein Aspekt der Ursprünge der Ästhetik ist neben Proportion und Vollständigkeit die claritas, die Helligkeit, der Glanz, die Leuchtkraft.
In schönen Dingen kann der Mensch die Spuren von Göttlichem erahnen.
Das Licht als Urmetapher für das Schöne und das Gute finden wir beispielsweise in Dante Alighieris Divina Commedia, wo er die LeserInnen im dreißigsten Gesang einen kühnen Blick ins Paradies tun lässt:
„Ein Licht lacht in der Höh, durch das der Schöpfer für die Geschöpfe sichtbar wird, die nur in seinem Anblick Frieden finden.“
Das Licht als Quelle und Urbild alles Schönen tut uns Menschen gut, macht uns fröhlich, lebendig, gesund, sichtbar.
Erst mit dem Licht kann sich die Freude an der Farbe entwickeln, die nur im Licht zum Leuchten kommt.
Der mittelalterliche Dom als Lichtschrein aus figural gestalteten Fenstern bot im Sinne der Biblia pauperum den Menschen, die nicht lesen oder sich keine Bibelausgabe leisten konnten, die Möglichkeit, die biblische Botschaft visuell vermittelt zu bekommen. Die Fenster waren also Bildträger des theologischen Programms.
Auch der neugotische Linzer Mariendom zeichnet sich durch eine Fülle von farbigen Glasfenstern aus. Jene im Kapellenkranz aus dem Jahr 1885 wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört. Nach 50 Jahre Frieden gestaltete Karl Martin Hartmann die neuen, sogenannten modernen Künstlerfenster. Hartmann hat bei der Erstellung der Entwürfe auf das Zeigen und Vermitteln konkreter, vorgegebener Themen weitgehend verzichtet.
Er lässt sein Interesse an den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen der Erforschung des Weltalls in die Konzeption einfließen.
Die Fenster imponieren durch Klarheit in Form und Farbe.
In der Kapelle „Königin der Patriarchen“ überwiegen die Primärfarben rot und blau. Der Eindruck einer ausgeklügelten Konstruktion täuscht nicht, tatsächlich wurden die Entwürfe am Computer gefertigt, im Maßstab 1:10 ausgedruckt und von Hand aquarelliert. Die starke kleinteilige Gliederung des Glases entsteht durch dünne Bleilinien.
Im Gegensatz zu den vielen gegenständlich gestalteten Fenstern im Mariendom begegnet uns im Kapellenkranz nicht die klassische Ikonographie; dennoch lösen die vielen Formen und Details und deren unterschiedliche Kombinationen Assoziationen in uns aus. Wir sind aber nicht auf eine bestimmte Aussage fixiert, sondern haben je nach eigener Verfassung und der Farbprächtigkeit der Fenster, die von der Intensität der Lichteinstrahlung abhängt, immer wieder neue Blick- und Interpretationsmöglichkeiten.
Das rechte Fenster zeigt uns 14 rote Vierecke auf blauem, mosaikartigem Hintergrund.
Jedes einzelne bietet eine Fülle von Deutungsmöglichkeiten aufgrund der grafischen dunklen Linienflüsse, die sich wie bei der Bildung von Eisblumen über das Rot ausbreiten. Linien – als fremdartige, bekannte, ruhige, schwungvolle, fertige, in Entwicklung begriffene Formen.
Jedes Einzelbild ist eine Welt für sich und doch gehören sie alle 14 zueinander.
Die Konturbilder aufgezeichneter Radiofrequenzstrahlung aus dem Weltall, aufgebracht auf dieses Fenster, bilden den Ausgangspunkt für die Idee, den Himmel der Erde etwas näherzubringen.
Die Unruhe im Schauen, die durch die vielfältigen Formen entsteht, wird durch die strikte, geometrische Gliederung wieder gemindert.
Das kräftige Rot lässt je nach Lichteinfall und Lichtintensität die Gebilde mehr oder weniger hervortreten.
Als Herausforderung an unser Sehen belohnt dieses Kunstwerk immer wieder mit neuen Assoziationen und Gedanken.
Das linke Fenster schenkt einen bunten, farblich reichhaltigen Gesamteindruck, jedoch wird der Blick sofort auf das sechs Felder einnehmende, in Rot gehaltene Einzelbild gelenkt. Erst bei näherem Hinsehen fällt auf, dass es nicht mittig platziert ist, sondern näher an den rechten Rand gerückt wurde.
Die umgebenden, kleinteiligen, bunten Glaselemente heben das Einzelbild heraus und verleihen ihm Plastizität – es tritt uns gleichsam entgegen, kommt auf uns zu.
Das Geflecht aus dunklen Linien ergibt ein in sich geschlossenes, anthropomorphes Gesamtbild. Es ist deutlich eine liegende Figur zu erkennen, die in starker Verkürzung dargestellt ist.
Als BetrachterIn hat man das Gefühl, zu Füßen dieser Gestalt, die in den realen Raum hineinragt, zu stehen und auf sie hinabzublicken.
Karl Martin Hartmann hat Andrea Mantegnas Gemälde Der tote Christus (Die Beweinung Christi) aus dem Jahr 1480 zitiert, auf dem Maria und Johannes neben Jesus knien und trauern. Hier sind wir es, die zu Füßen des Toten stehen, direkt und nahe, hingeführt zu den existentiellen Fragen unseres Daseins.
Karl Martin Hartmann hat für mich in diesen Fenstern seine beiden Leidenschaften vereint; die des Wissenschafters, des Physikers, der es gelernt hat, empirisch zu arbeiten und die des Kunstmenschen, der von den immer wiederkehrenden Themen der Kunstgeschichte begeistert ist.