Von der Notwendigkeit des "Wurzelziehens" – oder wie Jesus-Nachfolge heute gelingen kann
Gottesdienst Wels St. Franziskus 2. Mai 2021
Predigt zu Johannes 15,1-8
Liebe Christinnen und Christen!
Liebe Gottesdienstgemeinde!
Da es die Lehrkräfte und die Schülerinnen und Schüler gerade sehr schwer haben, beginnen wir mit einer kleinen Übung, dem Wurzelziehen. Ich meine nicht dieses beim Zahnarzt, sondern das aus dem Mathematikunterricht. Ausgehend von einer Zahl wird jene gesucht, die mit sich selber multipliziert die Ausgangszahl ergibt, also Wurzel aus 4 ist 2, weil 2 mit sich selber multipliziert 4 ergibt. Wie ist es bei 9, also 3, und bei 625? Bei 2 ist es 1,41 - und darum geht es mir jetzt.
Bei manchen Texten der Heiligen Schrift muss man auch die Wurzel ziehen, das Gewicht von 2 auf 1,41 reduzieren, sonst kommt man nicht an den Text.
Das heutige Evangelium, so bekannt und vertraut es auch ist, ist ein Korsett, ein zu enges Korsett. So kann man nicht Christ*in sein.
Weil wir im Gebiet der Religion nicht das Sichtbare, das Physikalische vor uns haben, den Baum, die Luft, das Mikrofon, beschreibbar, chemisch, elektrisch usw. neigen religiöse Texte zur Übertreibung, um vom Unsichtbaren doch auch etwas aussagen zu können. Weil man nichts ganz genau sagen kann, sagt man immer etwas mehr davon. Religiöse Sprache tendiert zudem zum Totalitären, weil sie Schöpfung, Welt, Sünde, Liebe und Tod erklären will. Sie verwendet gerne den Superlativ: der allmächtige Gott, der Heiland der Welt, von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Dasselbe Evangelium, wenige Verse vor unserem heute, lässt Jesus sagen: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben!“ (Joh 14,6) Das ist wuchtig und macht Eindruck. Aber was heißt denn das? Unzählige Exegeten, Schriftausleger, mühen sich mit diesem Satz. Und ich meine, er ist einfach eine Liebesklärung an Jesus. Wie wenn ein Mann zu einer Frau sagt: Du bist mein Ein und Alles. Also Übertreibung und darum Wurzelziehen, aus zwei mach 1,41. Jede Rebe, die keine Frucht bringt, schneidet er ab. Eine Drohung! Wie die Rebe aus sich keine Frucht bringen kann, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht in mir bleibt.
Was heißt: in Jesus bleiben?
Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Da ist keine Freiheit dazwischen. Totale, steife, zähe Anhänglichkeit, Verwachsensein. Allerdings: Wer in mir bleibt, der bringt reiche Frucht. Denn getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen. Was machen dann die Agnostiker, die Leute, die religiös unmusikalisch sind?
Wer nicht in mir bleibt, wird wie die Rebe weggeworfen und er verdorrt. Man sammelt die Reben, wirft sie ins Feuer und sie verbrennen. Arge Formulierung, für heute eine Holocaust-phantasie, denn Holocaust bedeutet „vollständig verbrannt“.
Aber dann: Wenn ihr in mir bleibt, dann bittet um alles, was ihr wollt: Ihr werdet es erhalten. Schwarz-Weiß. Wer teilt denn diese Erfahrung?
Wer ist denn mit Jesus so innig verbunden, zusammengewachsen wie ein Weinstock?
Der Faden zu Jesus ist für die meisten Menschen sehr dünn oder abgerissen. Man kann katholisch sein, politisch katholisch - ohne Jesus, dann ist man aber eigentlich kein Christ. Sie allerdings wären nicht hier, wenn Sie nicht mit Jesus eine Verbindung hätten. Und Sie wissen so gut wie ich, wie gut diese Verbindung tut. Sie ist Lebenselixier, wie das Aufperlen des Mineralwassers.
Sich dem Jesus-Projekt anschließen, vertrauen, dass die Liebe, der Glaube und die Hoffnung zählen und nicht das Geld, der Besitz, die Macht und die Habgier, nicht die Gemeinheit, sondern der Anstand.
Wer nicht in Jesus bleibt, verdorrt. Ich meine, dass viele Menschen heute in sich dieses Empfinden kennen, verdorrt, nicht lebendig zu sein. Es sprudelt in ihnen nicht klares, frisches Wasser. Darum neigen sie zur depressiven Verstimmung, zur Wut, die sie in Facebook ausleben oder reagieren auf die unzähligen scheinbar belebenden Impulse aus der Konsumgesellschaft. XXXLutz, was der alles hat!
Mein Vorschlag ist: Nähe und Distanz zu Jesus wählen!
Sinnieren, nachdenken, im Evangelium lesen, überlegen. Wie sehr will ich mitgehen und was ist genug für mich. Und auf die Grundlage achten, die wir alle im Leben brauchen: Autonomie und Verbundenheit, Autonomie in Verbundenheit!
Oder anders formuliert: Stufen der Nähe zu Jesus. Wir wählen.
Seien wir sportlich und bleiben wir nicht einfach auf einer erreichten Stufe stehen, steigen wir weiter. Das Leben wird dann nicht bequemer, aber die Fülle wird mehr und die Augenblicke vermehren sich glücklich zu sein!
Amen.
Verfasser der Predigt:
Dr. Wilhelm Achleitner, ehemaliger Direktor des Bildungshauses Schloss Puchberg in Wels, Wortgottesdienstleiter in Puchberg und manchmal in der Pfarre Wels St. Franziskus.