Biblisches zum Pilgern
Mit Gott aufbrechen – Pilgern in der Bibel
Allen Widrigkeiten der Coronakrise zum Trotz wurde 2021 ein Heiliges Jahr in Santiago de Compostela ausgerufen, wie immer wenn das Fest des Apostels Jakobus – Sohn des Zebedäus und Jünger Jesu (vgl. etwa Mk 1,19) – auf einen Sonntag fällt. "¡Sal de tu tierra!" lautet das biblische Motto unter dem dieses Jahr steht: Geh fort aus deinem Land! (vgl. Gen 12,1; Apg 7,3). Mit diesen Worten wird Abraham von Gott zum Aufbruch nach Kanaan bewogen und zieht – trotz seines hohen Alters, seiner Kinder- und Perspektivlosigkeit – im Vertrauen auf Gott aus, um ein neues Kapitel in seinem Leben aufzuschlagen. In ihrer spanischen Übersetzung hat diese Botschaft aber noch eine zweite Bedeutung: Sal bedeutet auch Salz. Ihr seid das Salz der Erde, lautet einer der eindrücklichsten Zusagen Jesu in der Bergpredigt (Mt 5,13). In der Nachfolge Jesu verändern wir die Welt um uns herum, geben ihr Würze und Geschmack und sorgen dafür, dass Wertvolles auch Krisen überdauert.
Nicht nur auf Abraham oder die Jünger/innen Jesu trifft diese Aussage zu, sondern auf alle, die sich von Gottes Wort berühren lassen. Viele Menschen sehen im Pilgern die Möglichkeit, sich Schritt für Schritt verändern zu lassen. Das gleichmäßige Gehen, das Hinhören auf die Fragen des Lebens, der Blick auf die Natur und die Menschen, die sie begleiten, geben dazu oftmals den Anstoß.
Warum pilgern?
Es gibt viele Gründe, sich auf den Weg zu machen – nicht immer muss es ein explizit biblischer Auftrag sein. Auf den großen Pilgerwegen trifft man viele Menschen an, die an Kultur oder Natur interessiert sind, ihre körperlichen Grenzen herausfinden wollen oder einfach gemeinsam mit anderen erfüllte Freizeit genießen wollen. Auch immer mehr junge Menschen nutzen die Vorteile einer kostengünstigen aber erfahrungsreichen Reise zu Fuß. Viele entdecken erst im Laufe ihres Weges, dass sie immer wieder mit den drängenden Fragen des Menschseins konfrontiert werden. Wer pilgert, lässt sich ein auf das Fremdsein, auf Gastfreundschaft und auf Begegnungen. Während die gewohnten Sicherheiten und Bequemlichkeiten des Alltags für eine beschränkte Zeit in den Hintergrund rücken, öffnen sich neue Horizont vor den Augen. Im täglich neuen Aufbruch gelingt es, offen zu werden für Neues. Die Suche nach dem richtigen Weg wird zum Symbol einer Sinnsuche in Umbruchssituationen der eigenen Biografie.
Biblische Pilgerreisen
Diese Erfahrungen sind es auch, die biblische Texte zutiefst prägen. Menschen machen sich auf die Suche, brechen gewollt oder ungewollt aus ihrem gewohnten Umfeld auf und machen Erfahrungen, die sie zutiefst prägen. Dabei steckt die Bibel voller Begegnungen. Menschen treffen sich auf Wegen, sie reisen, handeln, fliehen, ziehen ins Feld, werden vertrieben und kehren zurück. Diese Begegnungen hinterlassen Spuren und ermöglichen neue Perspektiven im Blick auf die Welt um sie herum. Auch von Gottesbegegnungen wird erzählt, die Menschen und ihre Wege nachhaltig verändern.
Aus dieser Sehnsucht nach Gottesbegegnung und -erfahrung entstehen im alttestamentlichen Israel Reisen zu Orten, in denen man die Gegenwart Gottes besonders wahrnehmen konnte. So weiß bereits das Alte Testament um die Bedeutung regelmäßiger Pilgerfahrten: Dreimal im Jahr sollen alle deine Männer vor dem Antlitz des Herrn erscheinen (Ex 23,17). Dafür wurde der Weg zu den Heiligtümern in Angriff genommen. Dies sollte nicht nur das religiöse, sondern auch das politische und soziale Gefüge Israels stärken. Verbunden damit waren auch Abgaben, die dem Heiligtum – ab dem 7. Jahrhundert ausschließlich dem Tempel in Jerusalem – zukamen. Dass auch Frauen Teil dieser Pilgergruppen waren, lässt sich etwa gut aus der Erzählung in 1 Sam 1 herauslesen.
Die religiöse Identität Israels – gerade auch in der Zerstreuung über weite Gebiete des Nahen Ostens und des Mittelmeerraums hinweg – ist also stark von der Idee eines gemeinsamen heiligen Ortes geprägt, zu dem hin die Gläubigen beteten bzw. in regelmäßigen Abständen auch hinpilgerten. Dieses Gruppenphänomen der Wallfahrt nach Jerusalem lässt sich an vielen biblischen Texten ablesen, etwa in den Pilgergebeten im Buch der Psalmen.
Menschen im Aufbruch
Diese institutionalisierte Form des Pilgerwesens, die bis zur Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch die Römer 69 n.Chr. Bestand hatte, ist aber nicht die einzige Parallele, die biblische Texte mit heutigen Pilgerinnen und Pilgern verbindet. Die Bibel ist ein Buch voller Aufbrüche und großer Dynamik. Immer wieder stehen in den biblischen Erzählungen Menschen im Vordergrund, die sich auf den Weg machen und zu Fuß losziehen. Abraham, Jakob, Rut, Elija, Tobias, Jesus und seine Jünger, aber auch Paulus und seine Begleiter sind wohl die berühmtesten unter ihnen. Sicherlich trifft auf keine dieser Personen im modernen Sinn die Bezeichnung Pilger/in zu.
Allesamt aber waren sie Menschen auf der Suche: nach Antworten, nach Sinn und nach neuen Möglichkeiten für ihr Leben. Gemeinsam oder alleine suchten sie dabei auch sich selbst und stellten die Frage nach Gott. Dieses Suchen verbindet sie über die Zeiten hinweg mit Männern und Frauen, die auf den vielfältigen Pilgerwegen unterwegs sind.
Reinhard Stiksel erschienen in der Bibelsaat 1/2021